Das HAUS RISSEN bildet seit 1954 junge Menschen und Angehörige der Bundeswehr in demokratischer Haltung aus. Zwischen historischer Tradition und aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen vermittelt das Haus praxisnah, flexibel und vor allem unabhängig politische Bildung. Jörg Hausendorf, Geschäftsführer von HAUS RISSEN, gibt im Interview Einblicke in seine Motivation, die Arbeit der Einrichtung und die besonderen Herausforderungen bei der Demokratiebildung in Deutschland.
Das ist Jörg Hausendorf:
Jörg Hausendorf ist Geschäftsführer von HAUS RISSEN, einer der ältesten Einrichtungen für politische Bildung in Deutschland. Er studierte an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und war Offizier bei der Bundeswehr, wo er u. a. Lehrtätigkeiten in politischer Bildung und Wehrrecht übernahm. Nach Stationen in der Privatwirtschaft, unter anderem bei BAUER MEDIA GROUP, entschied er sich bewusst für HAUS RISSEN, um seine Erfahrungen in der strategischen Leitung von Unternehmen auch in die politische Bildung einzubringen. Hausendorf war von Jugend an politisch engagiert: Er war Mitgründer einer jugendpolitischen Organisation in seiner Heimatgemeinde, Mitglied des Kreisvorstandes und bis im letzten Jahr auch direkt gewählter Gemeindevertreter. In der Landespolitik in Hamburg war er für Strategie und Kommunikation in der Landesgeschäftsstelle einer Partei verantwortlich. Bei HAUS RISSEN verantwortet er sowohl die kaufmännische und strategische Leitung und kümmert sich um Kommunikation und Außenkontakte. Seine Expertise verbindet betriebswirtschaftliche Kompetenz mit politischer Bildung, Lehrtätigkeit und Vernetzung mit Politik, Wirtschaft und zivilgesellschaftlichen Förderern.
Jörg Hausendorf verantwortet als Geschäftsführer vom HAUS RISSEN sowohl die kaufmännische und strategische Leitung und kümmert sich um Kommunikation und Außenkontakte. Foto: HAUS RISSEN
Herr Hausendorf, wie kamen Sie zum HAUS RISSEN?
Die ersten Kontakte habe ich noch während meiner Zeit bei der Bundeswehr aufgebaut. Ich war Offizier, habe an der Universität der Bundeswehr in Hamburg studiert und hier Seminare besucht. Später, 2019, nach meiner Zeit im Vorstand der BAUER MEDIA GROUP, wollte ich etwas Neues machen und bin bewusst zuallererst hierhergekommen, um zu unterstützen und meine Erfahrung einzubringen. Grundsätzlich wollte ich etwas für die Demokratie tun, etwas zurückgeben für das, was ich selbst von der Gesellschaft bekommen habe. Damals hat das leider nicht geklappt. Aber seit Juni darf ich nun hier mittun.
Hatten Sie schon eine Vorstellung, was Sie hier bewegen wollen?
Ich bin nicht hierhergekommen, um alles umzukrempeln. Erstmal musste ich lernen, wie die Organisation und die Finanzierung funktionieren. Mein Ansatz war, meine eigenen Fähigkeiten aus anderen Tätigkeiten einzubringen, zu sehen, wo ich einen Mehrwert schaffen kann, und diesen hier in einer relativ kleinen Organisation sinnvoll einzusetzen. Das ist auch ein Vorteil: Ich kann Perspektiven und Erfahrungen mitbringen, die vorher in dieser Form so niemand hier hatte – zum Beispiel als Führungskraft aus der Wirtschaft und der Politik und auch aus meiner Bundeswehrzeit, wo ich in meiner letzten Verwendung an der Logistikschule der Bundeswehr als Hörsaalleiter Offizieranwärter ausgebildet habe.
Welche Rolle spielt HAUS RISSEN für politische Bildung und die Bundeswehr?
HAUS RISSEN wurde 1954 gegründet, ein Jahr vor der Aufstellung der Bundeswehr. Die Gründer wollten bei zwei Zielgruppen – junge Menschen und Angehörige der Streitkräfte – demokratische Spielregeln einüben und eine positive Haltung zu dieser jungen Republik erzeugen, in der die meisten Führungskräfte noch aus der Zeit der Nazidiktatur stammten. Unser Ziel war und ist es, Menschen demokratische Prinzipien nahezubringen: diskutieren, debattieren, andere Standpunkte anzuhören und verstehen zu lernen, sich im Prozess selbst zu positionieren und eine eigene Meinung zu bilden.
Was bedeutet das?
Wir arbeiten übergreifend: Es gibt sicherheitspolitische Seminare, geopolitische Themen, aber auch Jugendbildungsprojekte für Schulen. Wichtig ist, dass die Teilnehmenden selbst aktiv werden und kritisch reflektieren. Gerade Planspiele – etwa zu Konflikten wie Transnistrien – zeigen den Teilnehmenden, dass Politik komplex ist. Entscheidungen fallen unter Unsicherheit, Informationen sind unvollständig, Meldungen ändern sich ständig. Das schult kritisches Denken und macht sie zukünftig weniger anfällig für vereinfachende Narrative und Fake News, die man insbesondere in sozialen Medien häufig sieht.
Was bieten Sie denn konkret an?
Wir decken ein breites Spektrum ab. Für Schulen gibt es Projekte wie „Erstes Date mit der Demokratie“ oder die Simulationen der Vereinten Nationen („SVeN“). Im Projekt „Erstwahlprofis“ („EWP“) bilden wir Wahlhelferinnen und Wahlhelfer aus, machen Planspiele, bei denen die Schülerinnen und Schüler Rollen von Staaten, Medien oder anderen Akteuren übernehmen. Dabei weiß niemand von Anfang an, wie sich die Situation entwickeln wird – und genau das macht es spannend. Ein wichtiger Aspekt: Wir passen uns an, was die Gruppe interessiert. Wenn die Diskussion besonders lebhaft ist, vertiefen wir auch mal ein Thema und kürzen ein anderes. Anders als in Schulen schreiben die Teilnehmenden keine Arbeiten, sondern erleben politische Prozesse ganz praktisch und hautnah.
Können Sie Beispiele nennen?
Ein Seminar hatten wir ursprünglich für die Bundeswehr konzipiert. Wir hatten 30 Teilnehmer, die Rollen von Medien, Staaten und Militär übernommen haben. Die Lage änderte sich ständig, es wurden neue Informationen eingespielt, manche Teilnehmer erhielten Vorgaben, andere nicht. Die Teilnehmenden mussten reagieren, Strategien entwickeln, miteinander kommunizieren – alles unter Unsicherheit. Nach solchen Planspielen merken sie: Politik ist kompliziert, einfache Urteile funktionieren nicht. Ähnliches gilt für Medienkompetenz: Viele Schülerinnen und Schüler kommen mit starken Meinungen von TikTok oder Instagram. Im Planspiel lernen sie, kritisch zu hinterfragen, verschiedene Perspektiven zu prüfen und erkennen, dass Nachrichten immer auch ein Stück weit unvollständig sind.
Wie viele Menschen nehmen an den Seminaren teil?
Pro Jahr etwa 3.000 bis 5.000, zum Teil in Mehrtagesseminaren. Über Jahrzehnte gerechnet, sprechen wir über Hunderttausende junger Menschen, die hier demokratisches Denken, Diskutieren und Handeln praktizieren konnten.
Ist der Einfluss messbar?
Direkt messen lässt sich das nicht. Wir bekommen Feedback von Teilnehmenden, aber wir können nicht in die Köpfe schauen. Wir erkennen jedoch deutlich, dass die Jugendlichen nach einem Seminar oder Planspiel anfangen, andere Perspektiven zu berücksichtigen, kritischer mit Medien umzugehen und ihre eigene Meinung zu entwickeln. Sehr gut lässt sich der Erfolg erleben, wenn wir mit Gruppen über mehrere Jahre kontinuierlich arbeiten können.
Wie finanziert sich das HAUS RISSEN?
Das ist ein sehr herausfordernder Teil. Wir sind unabhängig finanziert: Eigene Einnahmen kommen aus den Bundeswehrseminaren, aus Übernachtungen in unserem Gästehaus sowie aus Firmenveranstaltungen und anderen privaten Events. Schulen haben in Hamburg eigene kleine Budgets. Staatliche Fördermittel sind immer projektbezogen und müssen jährlich erneut eingeworben werden. Deshalb sind private Förderer, insbesondere die Unterstützung einer Reihe von Stiftungen, private Spenden und Unternehmensspenden für HAUS RISSEN essenziell. Nicht alle privaten Bildungsträger haben die schwere Coronazeit überlebt. Der Betrieb musste vollständig eingestellt werden. Es gab staatliche Überbrückungshilfen, bei denen bis vor Kurzem unklar war, ob und in welchem Maße sie zurückgezahlt werden müssen. Ohne verlässliche Unterstützer kann so ein unabhängiges, gemeinnütziges und überparteiliches Bildungsinstitut schnell in Schwierigkeiten geraten. Mein Wunsch ist daher, zukünftig eine möglichst stabile staatliche Grundförderung zu erhalten, die uns eine langfristige Planung ermöglicht. Zusätzlich braucht es noch mehr starke Schultern, auf die wir uns auch über Jahresfrist verlassen können: Stiftungen, Unternehmen und private Unterstützer.
Sie sind jetzt seit einigen Monaten im HAUS RISSEN tätig, welche Aufgaben übernehmen Sie konkret?
Dirk Schmittchen und ich sind gleichberechtigte Geschäfts- und Institutsleiter mit einer klar umrissenen Aufgabenteilung. Ich kümmere mich um die Gesamtstrategie des Instituts und die kaufmännischen Belange. Die Repräsentation und das Halten von Kontakten zu Politik und Wirtschaft, die Finanzierung (Sponsorenakquise, Förderanträge etc.) sowie Kommunikation und Marketing gehören dazu. Außerdem verantworte ich in der Geschäftsleitung den Jugendbildungsbereich.
Wie viele Mitarbeiter hat das Haus, und wie ist das Team strukturiert?
Wir haben rund 30 Mitarbeitende. Etwa die Hälfte arbeitet im Gastgeber- und Servicebereich, die andere knappe Hälfte in Bildungsbereichen (Jugendbildung sowie Geo- und Sicherheitspolitik). Dazu kommen im Institutsmanagement die Leitung für Finanzen/Personal, die Leitung für Marketing/Kommunikation, eine GL-Assistenz und ich. Das Team ist politisch, sozial und fachlich breit aufgestellt: verschiedene Perspektiven sind vertreten. Es ist uns wichtig, dass Meinungsvielfalt gelebt wird und niemand ausgegrenzt wird, der auf dem Boden unserer Verfassung steht.
Wie geht Ihr Haus mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen um?
Wir reagieren flexibel auf aktuelle Themen. Zum Beispiel haben wir nach dem Überfall der Hamas den Nahost-Konflikt in Seminaren angeboten, die von Experten aus beiden Bildungsbereichen gemeinsam durchgeführt werden. Wir beobachten die Entwicklungen in Medien und Politik, überlegen, welche Inhalte relevant sind, und passen unsere Programme kontinuierlich an. Das gilt auch für digitale Entwicklungen: Wir vermitteln Schülerinnen und Schülern Medienkompetenz, zeigen, wie sich Informationen verbreiten und wie sie Quellen kritisch prüfen können.
Sehen Sie Unterschiede zur schulischen Bildung?
Ja. Schulen können oft nur langsam auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Lehrpläne sind relativ starr, Zeit für Aktuelles geht von der Zeit für den Prüfungsstoff ab. Außerdem gibt es schwierige Themen, wie z. B. die religiösen Ursachen im Nahost-Konflikt, die lieber ausgelagert werden, da sie auch unter den Schülerinnen und Schülern aufgeladen sein können. Wir füllen diese Lücke, indem wir unmittelbare politische Bildung anbieten. Wir vermitteln nicht, welche Meinung die Teilnehmenden haben sollen, sondern wie Prozesse funktionieren und wie Interessenausgleich stattfindet. Unser Ziel ist es, dass die jungen Menschen verschiedene Standpunkte kennenlernen und diskutieren, indem sie diese selbst vertreten müssen und implizit auch lernen, Meinungen auszuhalten, die nicht ihrer Position entsprechen. Bestenfalls wird die eigene Meinung hinterfragt, durchdacht und verfestigt sich oder ändert sich in diesem Prozess.
Sind Sie selbst in den Seminaren involviert?
Ich gehöre keinem der beiden Bildungsteams an, kann aber einspringen, wenn Kollegen ausfallen. Ich war schon in der Schulzeit politisch sehr interessiert, habe einen Jugendverband gegründet und war politisch aktiv, später auch in der Kommunalpolitik in meiner Heimatgemeinde – das prägt meine Herangehensweise. Junge Menschen sollten früh in Diskussionen einbezogen werden, um ihnen zu zeigen, wie Demokratie funktioniert, und sie zu eigenständigem Denken zu befähigen. Wir brauchen mehr „Komplizen“ der Demokratie, die sich aktiv für unseren Staat und unsere Gesellschaftsform einsetzen. Das treibt mich um und wir müssen die jungen Menschen gewinnen und überzeugen.
Welche Ziele und Wünsche haben Sie für die kommenden Monate?
Wir wünschen uns finanziell stabilere Verhältnisse, damit unsere Arbeit langfristig abgesichert ist. Ideal wäre eine Grundförderung durch Bund, Länder oder Kommunen. Gleichzeitig wollen wir die Diversifikation unserer Unterstützer erhöhen: von Kleinspendern über mittlere Spender bis hin zu großen Sponsoren. Hamburg bietet dafür gute Voraussetzungen, aber es erfordert viel Überzeugungsarbeit, hinreichend Ressourcen zu aktivieren.
Welche Risiken sehen Sie?
Das größte Risiko ist, dass wir in finanzieller Unsicherheit arbeiten müssen und uns deswegen zu sehr auf kurzfristige Krisen konzentrieren. Das erschwert die langfristige Planung und kann die Qualität unserer Bildungsangebote gefährden.
Zum Abschluss: Was motiviert Sie persönlich am meisten?
Es ist die Möglichkeit, junge Menschen politisch zu bilden, kritisches Denken zu fördern und sie befähigt zu sehen, selbstbewusst Positionen einzunehmen. Demokratie zu stärken, indem man Menschen informiert, reflektiert und handlungsfähig macht – das ist meine Kernmotivation. Wie ich immer sage: „Es geht nicht darum, ‚Ja-Sager‘ auszubilden, sondern Menschen, die andere Standpunkte respektieren und reflektieren sowie eigene Meinungen entwickeln und artikulieren.“
Herr Hausendorf, vielen Dank für das Gespräch.